Köln | Ein Künstler ist in seinem Schaffen immer wieder auch auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach Selbstvergewisserung. Diese Behauptung mag nicht auf alle zutreffen, doch für viele ist es unabdingbar. Etwa für den Maler Yury Kharchenko, den das NS-Dokumentationszentrum jetzt mit 50 Arbeiten vorstellt.

Zentrales Thema von Yury Kharchenko ist die Suche nach der eigenen, der jüdischen Identität – eine Suche, zu der er von außen gedrängt wurde. Geboren 1986 in Moskau, wuchs er in einem säkularen jüdischen Elternhaus auf, in dem religiöse Rituale keine Rolle spielten. Doch schon auf der Schule wurde er mit seinem Judentum konfrontiert. Erst recht, als seine Familie 1997 als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland auswanderte.

Immer wieder wurde der Künstler auf sein Judentum angesprochen

Man könnte von einem „positiven“ Antisemitismus sprechen, dass er auch hier immer wieder als Jude angesprochen wurde, auch während seines Kunststudiums, das er in Düsseldorf bei Markus Lüpertz und Siegfried Anzinger absolvierte. Was also hatte er mit Judentum zu tun?

Hinzu kam ein Kapitel Familiengeschichte: Sein Großvater hieß ursprünglich Grynszpan, bevor er den Namen Kharchenko annahm – das geschah etwa zu der Zeit, als Herschel Grynszpan in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath erschoss. Die deutschen Nazis nahmen dieses Attentat zum Anlass für das November-Pogrom von 1938. Grynspan wurde wahrscheinlich 1942 im Zuchthaus Magdeburg ermordet. Ob er etwas mit seiner Familie zu tun hatte – viele Indizien deuten darauf hin –, konnte Yury Kharchenko nicht endgültig herausfinden.

Stattdessen stellte er sich der jüdischen Geschichte, beschäftigte sich mit jüdischen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern wie Mark Rothko oder Barnett Newman, die durch Namensänderung ihre jüdische Herkunft verbargen, verdrängten oder verleugneten – wer mag das heute beurteilen. Sich selber jedenfalls porträtiert er als Herschel Grynszpan in Häftlingskleidung und als Yury Kharchenko, letzteres Bild zur Hälfte mit Schwarz verdeckt, darauf die Frage „Wie lange noch meine Identität verstecken?“ – geschrieben in milchigem, etwas verschwommenem Weiß. So waren die Fenster in Herschel Grynszpans Zelle bemalt, hat Kharchenko herausgefunden, „damit er nicht nach außen blicken konnte“.

Der Unsicherheit über die eigene Identität spiegelt sich in der Malerei wider

Die Unklarheit über die eigene jüdische Identität spiegelt sich auch in Kharchenkos Porträts wieder, sei es das von Sigmund Freud, Felix Nussbaum, Simon Wiesenthal und Paul Celan oder nicht-jüdische Persönlichkeiten, die ihn beeinflusst haben wie Dostojewski oder Jorge Louis Borge. Er nimmt transparente Pastelltöne, überzieht die Fläche mit Tropfspuren, hinter denen sich die eindringlichen Gesichter wie aus Nebel und einem Vorhang herausschälen. Die Bilder flimmern – perfekt gemalt. Hass, Liebe und Sexualität – für beides steht die Farbe Rot, die die Bilder „Amy Winehouse und die Ungeborenen“ und „Geburt Jesu“ beherrscht. Letzteres entstand 2017 als Reaktion auf die Ankündigung von US-Präsident Trump, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Rot steht hier für – so der Künstler – das Blut, das im Kampf um Jerusalem vergossen wurde und wird.

Ähnlich gemalt ist der zweite Werkblock „Häuser“. Sie stehen für die 12 Stämme Israels, aber auch für einen Ort der Geborgenheit. Die ersten der 3,50 x 2 Meter messenden Bilder sind noch kantig, zeigen streng geometrische Dächer. Die jüngeren Bilder werden lockerer, in den Giebeln zeigen sich in bunten Wirbeln russische Folklore-Elemente.

Die Suche nach der eigenen Identität ist für Kharchenko noch nicht beendet. Es geht ihm weiter darum, malerisch die Grundfragen menschlichen Seins zu beantworten: Woher komme ich, wo stehe ich, wohin gehe ich? Was dabei bisher entstanden ist, lässt den Betrachter lange nicht los. Um so ich widersinniger erscheint der von Kharchenko zitierte Satz seines Lehrers Anzinger: „Kulturgeschichte gehört nicht in die Malerei.“.

[infobox]„Yury Kharchenko: Von Herschel Grynszpan über Simon Wiesenthal bis zu Amy Winehouse“ – bis 2. September 2018. NS-Dokumentationszentrumder Stadt Köln, Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln, www.nsdok.de,Di-Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr, erster Donnerstag im Monat 10-22 Uhr.

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Autor: ehu
Foto: Yury Kharchenko zwischen seinen beiden Selbstporträts als Herschel Grynszpan und Yury Kharchenko