Köln | „Rinnsteinkunst“ nannte Kaiser Wilhelm II. 1901 verächtlich die sozialkritischen Arbeiten unter anderem von Käthe Kollwitz, Heinrich Zille und Hans Baluschek. Das Käthe-Kollwitz-Museum zeigt jetzt mit der Ausstellung „Berliner Realismus“, warum diese „Rinnsteinkunst“ heute hoch geachtet wird.

„Wer streikt ist der Totengräber seiner Familie“, warnt das große Plakat aus dem Jahr 1919, das dem Besucher der Ausstellung als erstes in Auge springt. Umrahmt ist es von Bildern mit roten Fahnen. Zu sehen sind auf dem Plakat – im Hintergrund – streikende Arbeiter vor einer Fabrik, Blickfang ist eine Mutter mit Kind, die auf einem Sarg sitzt.

Die Bilder mit roten Fahnen sind von Jakob Steinhard (1921) und Arthur von Kampf (ein „Zeitdokument“ aus dem Jahr 1918, der Maler trat später der NSDAP bei), George Grosz schickte 1924 mit roter Faust den Kaiser ins Exil. Käthe Kollwitz reicht 1928 Kohle für ihre Zeichnung „Revolution“. Aus heutiger Sicht wohl überraschend der Auftraggeber des Anti-Streik-Plakats: SPD und USPD, die damit die politische Lage beruhigen wollten.

Sozialkritische Kunst aus der zeit, als Berlin zur Industriestadt wurde

Diese fünf Exponate zeigen die aufgeheizte Stimmung der Nachkriegszeit in Berlin, stellvertretend für ganz Deutschland. Doch die sozialen und politischen Konflikte waren schon vor 1914 angelegt. So beginnt die Ausstellung – sie reicht bis zum Ende der Weimarer Republik – in der späten Gründerzeit, als Berlin zur Industriestadt wurde, die Bevölkerung sich explosionsartig verdoppelte, das Proletariat unter beengtem Wohnraum litt, sich Armut und Krankheiten ausbreiteten. Ein Überlebenskampf, in dem vor allem viele Mütter durch Selbstmord kapitulierten.

Es war zunächst vor allem Zille, der mit seinen Fotos, Zeichnungen und Radierungen aus dem „Milljöh“ versuchte, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Später folgte ihm Käthe Kollwitz nach. Und fast vergessen ist Hans Baluschek, der in altmeisterlicher Manier die dunklen Seiten der Industrialisierung festhielt. Auch Otto Nagel ist dabei, Mitorganisator der Künstlerhilfe, Teil der Internationalen Arbeiterhilfe. Diese gab von 1921 bis 1938 die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung heraus (AIZ), für die John Heartfield zahlreiche Titelbilder entwarf.

Die Unbarmherzigkeit der Arbeitswelt, die schlechten Wohnverhältnisse oder die politischen Auseinandersetzungen sind in oft brutaler Deutlichkeit ebenso Thema wie der Krieg. Doch neben Sozialkritik werden auch die kleinen Vergnügen in der Freizeit im Bild festgehalten. Da gibt es das kleine private Glück ebenso wie die Massenunterhaltung bei Ringkampf zwischen Mann und Frau. Und auch die Welt des Rotlichts zog Künstler wie Otto Dix oder George Grosz an.

Die Ausstellung ist eine überarbeitete Übernahme aus Berlin

Rund 130 Zeichnungen, Plakate, Gemälde, Grafiken, Fotos (unter anderem von Adam Pisarek aus dem Berliner Ghetto) und Zeitungen sind zu sehen. Die Kölner Ausstellung ist eine Übernahme vom Berliner Bröhan-Museum, durch Rückzug von Museen als Leihgebern und neue Leihgaben allerdings stark verändert. So stammt Zilles buntes „Strandbad Wannsee“ aus Privatbesitz: Ein fröhlicher Endpunkt der Ausstellung ohne Angst vor Fettröllchen.

Ach ja, „Rinnsteinkunst“: Die so diffamierten Künstler verstanden es wie wenige Jahrzehnte zuvor ihre impressionistischen Kollegen aus einem Schimpfwort ein Wort des Lobes zu machen. Heinrich Zille schrieb das Wort sogar in sein Bild „Im Arbeiterviertel“ ein. Passend auf den Rinnstein.

[infobox]„Berliner Realismus. Von Käthe Kollwitz bis Otto Dix“ – bis 5. Januar 2010. Käthe Kollwitz-Museum, Neumarkt 18-24, 50667 Köln, Tel. 0221 / 227-28 99 , Öffnungszeiten: Di-Fr 10-18 Uhr, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr, Eintritt: 5/2 Euro. Katalog: 24 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm, unter anderem werden die Kinoklassiker “Mutter Krausen’s Fahrt ins Glück” (Stummfilm nach Erzählungen und Skizzen von Heinrich Zille, 1929) und “Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?” (Drehbuch: Bertold Brecht, 1932) gezeigt.

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Autor: ehu
Foto: „Ringkampf in der Schaubude“: Heinrich Zille hielt dies Ablenkung vom Arbeitsalltag im Jahr 1903 fest. © Privatsammlung Berlin